Ich poste, also bin ich!
Social Media und die
Unglaublichkeit einer
langweiligen Nacht
Oktober 2017
Ein Straßencafé. In der rechten Hand hält er ein Plastiklöffel, in der linken sein Smartphone. Der
braune Zucker kratzt auf dem Pappbecherboden seines handmade Cappuccinos. Er wischt und tippt
auf dem Gerät in seiner linken Hand. Freies WLAN. Liken. Tippen. Ein kurzes Lächeln. Er wirkt wie
jemand, der heimlich auf eine öffentliche Toilette masturbiert und seinen Orgasmus kaum noch
abwarten kann. Posten. Kurze Entspannung. Ein Schluck Kaffee.
Neben dem jungen Mann sitze ich. Ich trage einen dichten Vollbart, ein billiges H&M-Shirt und müde
Augen. Mein Smartphone vibriert. Ich lese eine Instagram-Nachricht, lächle kurz auf und boxe
anerkennend meinem Sitznachbarn auf die Schulter. „Du bist so ein Vogel!“
Man ist vernetzt. Losgelöst von Raum und Zeit ist man stets über das Weltgeschehen informiert, zum
Shopping bereit und mit seinen Freunden verbunden. Kaum ein Moment, in dem das Innere nicht
nach außen gekehrt und für die Ewigkeit in unbedeutenden Timelines geklebt wird.
Die Bildnachricht meines Nachbarn landete neben Instagram auch auf Facebook. Ein Dokument des
Morgens. Man war feiern. Konnte sich nach zehn Stunden Party in das aufgehende Sonnenlicht
retten. Ein schlafender Besoffski, ein Edding 3000 und die mangelnden künstlerischen Fähigkeiten
meines Kollegen, sind elementarer Bestandteil des Posts.
Die retuschierte Unglaublichkeit
Den ganzen Abend wurde die Unglaublichkeit der Nacht dokumentiert und retuschiert. Schlechte
mechanische Musik mit wildem Tanz vertuscht, Langeweile mit Grimassen überspielt und
emotionslose Momente mit Fotofiltern veredelt. Das taube Gefühl einer entzauberten Welt, einer
Zeit ohne Geheimnissen und Ungewissheiten wird mit noch mehr Transparenz, Smartness-
Steigerung und überbordenden Narzissmus betäubt. Man ist frei, man ist reich, man ist euphorisch,
man ist dem Burn-Out nah. It´s better to burn out than to fade away. Man ist Rock’n’Roll – ein
laktosefreier, über 27 Jahre alter und Elektro hörender Rock’n’Roll. Neil Young ist nur noch ein Name
auf der Vintage-Platte an der Zimmerwand.
In der Entwicklung einer unglaublichen Nacht, eines unglaublichen Moments, eines unglaublichen
Lebens, sind die sozialen Medien von elementarer Bedeutung. Was ist schon die Unglaublichkeit des
eigenen Lebens, wenn keiner dieses bewundern oder beneiden kann. Sie wirken wie eine Wunderpille
gegen die Durchschnittlichkeit und Bedeutungslosigkeit. Kurz einwerfen und – HALLO! ICH BIN
WIEDER DA!
Man ist sein eigenes Werbe-Objekt geworden. Jeder Post ist eine neue Form der
Selbstverwirklichung. Jedes Like und Teilen eine Bemessung des Ausstellungswerts. Die
Undeutlichkeit des Selbst innerhalb einer Wohlstandsgesellschaft, wird in einem pornografischen Akt
bekämpft. Mit dem Dildo in der Hand wird sich entblößt, enthüllt und exponiert. Nur so kann die
eigene Identität sichergestellt werden.
Ein letzter Schluck Kaffee. Zuviel Zucker! Eine Gruppe von Läufern zieht an uns vorbei. Man sollte
nach Hause gehen. Schlafen und die langweiligen Albernheiten von letzter Nacht Nostalgie werden
lassen. Hey hey, my my. Rock and roll will never die!